Weit genug weg von den gestrengen Augen der Mutter , sah Maxl sich um : Die kleinen Einfamilienhäuser - in denen zu der Zeit nicht selten drei und mehr Familien wohnten - standen zu beiden Seiten der Strasse nebeneinander gereiht, eines sah aus wie das andere , denn es war eine Siedlung . Vorne gab es Vorgärten und nach hinten hatte jedes Haus auch einen schönen grossen Garten . Und die Stromleitungen waren damals noch über den Dächern montiert - von einem Haus zum andern . Auf diesen Leitungen sassen Spatzen oft scharenweise zusammen und zwitscherten und machten Lärm . Und so manchen Spatz hatte Maxl da schon abgeschossen mit seiner Schleuder .
An jenem Tag aber sass nur ein einzelner Spatz auf der Stromleitung , genau in der Mitte
zwischen zwei Häusern .
Maxl schaute sich um , ob nicht aus einem der oberen Fenster , irgend jemandes Grossmutter ihn
beobachten konnte . Da musste man aufpassen , denn Grossmütter sahen fast immer alles .
Aber niemand war zu sehen ! Also nahm er seine Schleuder hervor und suchte einen geeigneten
Stein . Zisch ! Der Stein flog an dem Spatz vorbei . Nicht getroffen ? Noch ein Stein , sauber
in das Lederstück eingelegt und gezielt : Zisch ! Und wieder knapp daneben ! Der Spatz aber
rührte sich nicht . Das gab es doch nicht ! Wieso flog er nicht weg ? Dir werde ich es
schon zeigen , dachte Maxl und schoss den nächsten Stein ab . Diesmal zischte er wirklich nur
ganz knapp vorbei und doch tat der Spatz so als wäre nichts geschehen - ja er wendete gar den
Kopf , so als schaue er dem Stein noch nach ! Maxl wurde ärgerlich weil er nicht getroffen hatte ,
und weil der Spatz nicht einfach wegflog . Die wussten doch sonst immer , wann es gefährlich
für sie war ! Maxl kramte in seiner Hosentasche nach einer Eisenkugel . Schön rund und glatt war
sie. Sollte er sie opfern? Er hatte die Eisenkugel einmal beim Murmelspielen gewonnen und seither
gehütet wie ein Schatz - aber er wollte diesen Spatz ja unbedingt treffen.Und diesmal zielte
er sehr sorgfältig -und er traf !
Der Spatz fiel herunter . Geschafft !
Maxl schaute sich um , ob ihn auch wirklich niemand gesehen hatte , und stieg über den
Vorgartenzaun um den Spatz zu holen .
Da lag er zwischen den Blumen , und - er war tot .
Aber es war kein Spatz , es war ein Singvogel ! Ein Goldammer war es !
Vorsichtig nahm Maxl den Vogel in die Hände und betrachtete den kleinen , zerbrechlichen Körper ,
die zierlichen Beinchen , das Köpfchen mit den halb geschlossenen Äuglein aus denen aller Glanz
schon gewichen war . Und urplötzlich war es nicht mehr wichtig , ob dieses kleine Geschöpf
nützlich war oder nicht . Schön oder weniger schön , ein Goldammer oder Spatz ! Was konnte
ein Spatz dafür dass er nur ein Spatz war , und was konnte ein Singvogel dafür dass er ein Singvogel war und nicht ein Spatz ? Maxl begriff was er da getan hatte und es tat ihm unendlich
leid . Armer Vogel . Er trug den kleinen leblosen Körper hinüber in seinen Garten . Dort grub er
mit seinen Händen ein kleines Loch , legte es mit Gras aus und bettete den toten Vogel hinein .
Dann pflückte er von Mutters Dahlien eine schöne grosse Blüte und legte sie obenauf , und darüber breitete er Sand und machte einen kleinen Hügel daraus . Ein richtiges kleines Grab bereitete
er seinem Opfer , und vom nahen Apfelbaum brach er einen Zweig ab , machte ein Kreuz daraus und
steckte es in den kleinen Hügel .
Als von oben , vom Dach her , ein Spatz fröhlich in den Tag zilpte , da klang es genauso schön
wie das schönste Singen eines Singvogels für ihn....Kleine Jungs weinen ja bekanntlich nicht , drum
schaute Maxl zu Boden und wischte sich mit dem Ärmel die Augen . -
Und er wusste , dass er nie , nie wieder auf einen Vogel schiessen würde !