Klara war das was man heute eine allein erziehende Mutter nennen würde , sie hatte
sechs Kinder , da galt es sechs hungrige Mäuler zu stopfen . Und dies zu einer
Zeit als es fast nichts zu Essen gab , und das Geld - sofern man welches hatte ,
nicht mal das Papier wert war auf das es gedruckt war . Kaufen hiess damals "hamstern" ,
und man tauschte wenn man etwas zu tauschen hatte . Für Milch musste man Schlange
stehen und oft genug war die Milch alle bevor man an die Reihe kam . Klara brauchte
unbedingt Milch , zumindest für ihre drei jüngeren Kinder , die nun wirklich mager
waren . Wie schön wäre es doch wenn man wenigstens eine Geiss hätte die man melken
könnte , davon träumte Klara . Aber sie hatte nichts womit man eine Geiss hätte
eintauschen können , und so würde es wohl ein Traum bleiben müssen .
Doch eines Tages erfuhr sie zufällig dass in der weiteren Nachbarschaft , Herr Meyer
unbedingt Heu brauchte und dafür gerne ein junges Zicklein eintauschen würde .
Heu hatte Klara noch , denn die Kaninchen die sie einmal besessen hatte , die waren
längst geschlachtet oder gegen Kleider eingetauscht .
"Abgemacht Klara " , sagte Herr Meyer und reichte ihr die Hand : Du bringst mir
einen Zentner Heu und das Zicklein gehört dir ! Klara schlug freudig ein und strahlte .
Sie hatte lange mit Herr Meyer verhandeln müssen bis sie sich einig wurden , denn er
wollte ursprünglich ja zwei Zentner - das wäre zuviel gewesen , aber einen Zentner
könnte sie schon zusammen bringen hatte sie gesagt , und nun war der Handel perfekt . Zwar
würde es nun eine Weile dauern bis sie ihren Kindern Ziegenmilch geben konnte . Denn
bis aus einem Zicklein das gerade mal vier Wochen alt war , eine Ziege wird , das
braucht schon seine Zeit - aber der Anfang war gemacht .
Klara eilte mit der freudigen Botschaft nachhause und rief alle ihre Kinder zusammen
und sagte : "So Kinder , alle müssen helfen , wir müssen das Heu vom Estrich holen
und wiegen !" Eine so grosse Waage , dass man einen Zentner darauf wiegen könnte , hatte
Klara natürlich nicht . Auch in der näheren Nachbarschaft hatte niemand so eine . Also
musste kurzentschlossen die Küchenwaage , auf der man gerademal zehn Kilogramm auf einmal
wiegen konnte , herhalten .
Die Kinder waren begeistert . Die zwei Jüngsten durften das Heu aus dem Estrich runter
werfen in den Hof - welch eine Freude im Heu herumwühlen zu dürfen , ohne dass geschimpft
wurde !!
Die nächsten zwei stopften das Heu in Säcke und Klara achtete darauf dass es auch ja
immer genau gewogen wurde . Die beiden älteren Kinder schafften die Säcke mit dem Heu
auf einem kleinen Handwagen zu Herr Meyer , der immerhin zwei Kilometer weiter entfernt
wohnte , - und der wiederum sehr genau darauf achtete dass das Gewicht jeweils stimmte .
So sehr es auch Anfangs Spass gemacht hatte allen , es wurde doch mühsam mit der Zeit ,
denn es mussten viele Säcke gefüllt und transportiert werden , weil es recht kleine
Säcke waren . Schliesslich war es dann doch geschafft , mit der letzten Fuhre ging auch
Klara mit und ihre ganze Kinderschar durfte mitkommen .
" Viel Glück damit " , hatte Herr Meyer noch gesagt als sie zusammen mit dem so erworbenen
Zicklein wieder abzogen , und Klara war sich dessen wohl bewusst dass es schwierig werden
würde . Abwechselnd durfte jedes der Kinder das Zicklein auf den Arm nehmen und ein
Stück des Weges tragen . Zuhause angekommen , waren alle glücklich zu sehen , wie das
Zicklein so neugierig in der Wohnküche alles beschnupperte , es war so lustig wie es
herumhoppste und sich gleich wohl zufühlen schien . Schön weiss war das Zicklein und man
konnte schon sehen dass es Hörner bekommen würde . Ach alles war wunderbar ! " Wir nennen
sie Gretel " , sagte Klara und alle waren einverstanden . Gretel war das schönste Zicklein
auf der Welt , da waren sich alle einig !
Klara kochte Haferschleim . Als er handwarm war , goss sie davon in eine kleine Schüssel ,
reichte es Gretel und - tatsächlich , sie labberte die ganze Schüssel aus , es schmeckte
ihr also . Und danach , als es Zeit wurde ins Bett zu gehen , da legte sie das Zicklein
in einen mit Stroh ausgelegten Wäschekorb , aber so richtig wollte es nicht darin bleiben .
Am liebsten hätte jedes der Kinder Nachtwache gehalten , aber am nächsten Tag war Schule -
da mussten auch die Älteren artig ins Bett . Gretel würde sich schon daran gewöhnen dass
sie allein sein musste wenn es dunkel war . Gleichwohl hörte Klara des Nachts einige male
die Tür leise knarren , aber sie lächelte nur still vor sich hin , denn richtig schlafen
konnte sie auch nicht - und sie konnte es ihren Kindern nicht verdenken dass sie aufgeregt
waren , sicher mehr noch als sie selber .
Am dritten Tag war Gretel nicht mehr so munter , sie liess die Ohren hängen , bewegte sich
kaum und hatte Durchfall . Die Umstellung von der Ziegenmuttermilch auf den Haferschleim
war nicht so gut . Gretel rührte den Haferschleim in ihrer Schüssel nicht mehr an . Klara
flösste dem Zicklein erst mit dem Löffel Kamillentee ein , dann gab sie den Tee mit der
Flasche , und Gretel nuckelte langsam wieder daran , aber so richtig wollte sie nicht .
Richtig krank sah sie aus und zitterte dass es einem erbarmte . Alle waren traurig und
sprachen auf das Zicklein ein dass es nur ja nicht sterben solle . Es kamen kritische Tage
und alle hatten Angst um Gretel . Doch Klara war zuversichtlich - sie würde das Zicklein
schon durchbringen ! Und als es zu allem Überfluss auch noch einmal so richtig kalt wurde ,
da nahm Klara das Zicklein des Nachts zu sich ins Bett , damit es warm hatte und sie ihm
jederzeit das Fläschchen geben konnte .
Drei Wochen voller Hoffen und Bangen um Gretel !
Dann erholte sie sich langsam wieder , trank auch wieder Haferschleim aus der Flasche , stand
immer öfter wieder auf seinen dünnen Beinchen , und lief auch etwas umher . Unsicher noch ,
doch es wurde von Tag zu Tag besser . Und dann als sie von alleine wieder aus ihrer Schüssel
trank , da wusste Klara dass Gretel überm Berg war . War das eine Freude , als die Kinder
eines tages von der Schule kamen und Gretel ihnen freudig entgegen sprang ! Überschwenglich
wurde sie von allen in den Arm genommen und gestreichelt und geherzt , und die Kinder lachten
und weinten in einem ! Gretel war wieder gesund ! Brave liebe Gretel !
Gretel wuchs und wurde ein prächtiges , munteres Zicklein . Klara aber war nicht mehr nur
die Mutter ihrer Kinder , sie war inzwischen auch zur Mutter für das Zicklein geworden ,
Gretel folgte ihr auf Schritt und Tritt , auch später noch , als aus dem Zicklein Gretel
längst die prächtige Geiss Gretel geworden war , die ausserordentlich viel Milch gab -
Milch für Klaras Kinder...